

Im Lager herrschte die übliche abendliche Geschäftigkeit, wenn alle Reisenden in ihrem Gepäck kramten, Schlafplätze vorbereiteten und die Tiere für die Nacht versorgten. Johann war gerade dabei, sein Pony abzusatteln und es zu den anderen außerhalb des Wagenrunds zu bringen, als Jacob wie zufällig sein Pferd neben ihn führte.
„Hört zu, Johann“, sprach der Jäger leise und ohne ihn anzusehen. „Tut einfach, was ich sage. Macht Euch noch heute Abend reisefertig, nehmt Eure Ponys und schlagt die Richtung ein, in die Eure Wildsau heute wirklich gelaufen ist. Ich habe die erste Wache, und wenn Ihr Euch nicht allzu dumm anstellt, wird niemand Euren Aufbruch bemerken. Und esst vorher! Ich werde Euch im Laufe der Nacht einholen.“
„Seid Ihr verrückt? Ich werde nichts dergleichen tun!“
„Doch, werdet Ihr“, sagte Jacob ruhig. „Es sei denn, Ihr wollt Eure Fahrt gefährden und Euren Hals noch dazu!“
Damit bog er mit seinem Pferd zur Seite ab und Johann hatte keine Chance auf weitere Widerrede. Außerdem bot sich nicht die kleinste Möglichkeit, diese Sache unauffällig mit Walburga, Isolde und Gottfried zu diskutieren. Also musste er ganz allein eine Entscheidung treffen und darauf hoffen, dass die anderen ihm vertrauten.
Er kehrte in das Wagenrund zurück und suchte Gottfried. An einem der Lagerfeuer fand er ihn zusammen mit Isolde. Sie saßen auf ihren Sätteln und wärmten sich an den Flammen. Eine Magd war gerade losgegangen, um Wasser zu holen, und für den Moment waren sie allein.
Johann hockte sich neben die beiden und sagte: „Packt unauffällig eure Sachen. Nach dem Essen werden wir unsere Ponys beladen und aufbrechen. Sprecht mit niemandem darüber. Fragt nicht. Macht einfach.“
Gottfried runzelte die Stirn und Isolde wollte ansetzen, etwas zu erwidern, als zwei Diener mit einem großen, schmiedeeisernen Topf herankamen, um ihn auf das Feuer zu setzen. Johann nutzte diesen Moment, um aufzustehen und sich auf die Suche nach seiner Frau zu machen.
Isolde sah Gottfried fragend an. Der zuckte nur die Schultern. „Wir sollten einfach tun, was er sagt.“
Auch wenn die vier dazu neigten, jede Entscheidung lange zu diskutieren, waren sie doch in der Lage, einem von ihnen, wenn es nötig war, ohne Widerrede zu folgen.
Trotzdem blieb eine Anspannung. Nach diesen wenigen Tagen in Sicherheit keimte zum ersten Mal wieder Beunruhigung in ihnen auf.
So beiläufig, wie es eben ging, packten sie ihre Bündel, konnten aber keine Verpflegung mitnehmen. Es wäre doch sehr aufgefallen, wenn sie den Koch unmittelbar vor dem Abendessen um Lebensmittel gebeten hätten.
Sie versuchten, so viel wie möglich zu essen, und nahmen sich reichlich kleine Brotlaibe und Äpfel, die sie heimlich in ihre Taschen stopften.
Als alle ihr Mahl beendet hatten und die Mägde herumgingen, um Töpfe und Schalen einzusammeln, verstreuten sich die vier unauffällig. Das war nicht schwer, denn jetzt standen viele Mitglieder der Reisegesellschaft auf und gingen hierhin und dorthin. Die einen legten sich schlafen, andere machten es sich für einen gemütlichen Abend am Feuer bequem. Wieder andere holten sich eine zusätzliche Decke oder vertraten sich einfach nur die Beine.
So konnten die vier unbeobachtet hinter das Wagenrund treten und ihre Bündel und Sättel zu den Ponys tragen. Walburga und Isolde wechselten im Dunkeln die Kleider und verstauten ihre eigentlich nur geliehenen Röcke und Mieder in ihrem Gepäck.
Leise saßen sie auf und schlugen in aller Heimlichkeit die Richtung ein, in die Phaia tagsüber gelaufen war. Ein zunehmender Mond schien kalt und klar vom Himmel. Nach und nach ließen sie die lebendigen Geräusche des Lagers hinter sich.
Als alles um sie herum still geworden war, wagten sie endlich, miteinander zu reden.
„Was wird das hier, Johann?“, fragte Isolde. „Es ist mehr als undankbar, uns einfach so davonzustehlen.“
„Jacob weiß irgendetwas über Phaia, was wir nicht wissen“, begann Johann zu erklären, während sie sich in langsamem Schritt einen Weg suchten. Immer der dunklen Spur folgend, welch die Wildsau hinterlassen hatte.
„Er hat uns heute Nachmittag schon sehr spitzfindige Fragen gestellt“, bestätigte Gottfried. „Er weiß, dass Phaia aus dieser Flasche gekommen ist.“
„Was?“ Isolde fuhr bestürzt zu ihm herum. „Woher weiß er das?“
Gottfried und Johann zuckten die Schultern. „Gesagt haben wir es ihm jedenfalls nicht.“
„Und ihr meint, wir müssen jetzt vor diesem Jacob fliehen?“ Walburga drehte sich besorgt zu der hinter ihnen liegenden Dunkelheit um. In der Ferne sah sie schwach die rötlichen Feuer schimmern.
„Nein“, hob Johann an, den anderen endlich die Wahrheit zu sagen. „Jacob wird uns heute Nacht noch hinterherreiten und uns einholen. Es war er, der mir gesagt hat, dass wir aufbrechen und allein weiterreiten sollen.“
Jetzt, hier draußen in der kalten Nacht, erschien es ihm schwer, seinen Freunden verständlich zu machen, warum genau Jacob ihn davon überzeugt hatte, seinem Plan zu folgen.
„Wartet, bis er da ist.“ Mehr fiel Johann für den Augenblick nicht ein. „Dann wird er uns alles erklären.“
„Na, das hoffe ich doch sehr“, antwortete Gottfried, und man hörte deutlich heraus, dass er Johanns Entscheidung mitnichten für richtig hielt.
„Sollten wir dann nicht anhalten und auf ihn warten?“, fragte Walburga.
„Nein, er hat sogar gesagt, dass wir möglichst weit reiten sollen.“
Isolde seufzte hörbar auf. „Den ganzen Tag dieses Gerüttel in der Kutsche, da hatte ich mich eigentlich auf einen geschützten Schlaf in Friedemanns Obhut gefreut.“
„Freu dich lieber, dass du reiten kannst“, sagte Walburga. „Und stell dir vor, Edeltraud und ihre unsägliche Oma könnten uns jetzt sehen.“
Der Gedanke hellte Isoldes Laune beträchtlich auf. Dann trieben sie ihre Ponys an, denn die Männer waren inzwischen schon ein Stück vorausgeritten.
Sie waren noch nicht lange unterwegs, als sie hinter sich leises Hufgetrappel hörten. Wenige Momente später stieß Jacob zu ihnen. Auch er hatte ein Bündel am Sattel befestigt und zwei gefüllte Packtaschen rechts und links. Er ritt, sein Pferd zügelnd, einen kleinen Bogen um sie herum, und alle kamen zum Stehen.
Mit einem zufriedenen Blick schaute der Jäger ihr Gepäck und die Reitkleidung der Frauen an.
„Danke für Euer Vertrauen“, begrüßte er sie. „Ich denke, Ihr werdet es nicht bereuen. Lasst uns noch ein paar Meilen hinter uns bringen.“
Und ohne weitere Worte setzte er sich an die Spitze der Gruppe und schlug ein beträchtliches Tempo ein.
Sie mussten neidlos anerkennen, dass der Jäger eindeutig geübter darin war, bei Nacht einer Spur zu folgen. Dennoch schwankten ihre Gefühle zwischen dem unangenehmen Eindruck, bevormundet zu werden, und einer großen Erleichterung darüber, einen Führer zu haben.
Der Mond schien sich am Himmel immer weiter zu entfernen und der nächtliche Ritt kein Ende zu nehmen.
Müde und erschöpft hielten sie endlich zwischen einigen kahlen Sträuchern. Die weite Ebene bot keinen besseren Schutz. Jacob verbot es ihnen, ein Feuer zu entzünden.
„Man würde uns meilenweit sehen und das will ich nicht riskieren, bevor ich nicht mehr über Euch und Eure Mission weiß.“
Seufzend ließen sich die vier auf ihren Bündeln nieder und wickelten sich, jeweils zu zweit, warm in ihre Decken ein. Alle genossen das Gefühl, zumindest die Muskeln ruhen zu lassen. An Schlafen war jedoch nicht zu denken. Es gab zu viel zu fragen und zu besprechen.
„Bevor Ihr etwas über uns erfahrt“, hob Gottfried an, „möchte ich mehr über Euch wissen. Was hat Euch bewogen, uns mehr oder weniger dazu zu zwingen, Friedemann zu verärgern und die halbe Nacht zu reiten?“
Jacob nahm den zornigen Unterton nicht übel. „Ihr hättet am Morgen sowieso gemerkt, dass die Straße nicht Euer Weg ist. Die Wildsau läuft, wie Ihr hoffentlich feststellen konntet, exakt nach Süden. Und die Handelsstraße hätte Euch nach Westen gebracht.“
„Aber das allein ist nicht der Grund, warum Ihr hier bei uns sitzt“, bemerkte Johann.
„Nein, der Grund ist ein anderer. Und Ihr müsst mir erlauben, ein wenig auszuholen.“
„Holt nicht allzu weit aus, mein Lieber“, bat Isolde, „ich war, glaube ich, in meinem ganzen Leben noch nicht so müde.“
„Eure Phaia kam aus einer Flasche“, begann Jacob. „Und da muss sie ja irgendwie hineingekommen sein.“ Die Zuhörer wurden trotz ihrer Müdigkeit aufmerksam.
„Das muss ein Dschinn gemacht haben!“, fuhr Jacob fort.
Die vier schauten sich stirnrunzelnd an.
„Was ist das, ein Dschinn?“, fragte Walburga.
Jacobs Stimme war leise, aber gut verständlich. „Dschinns gab es schon vor den Menschen. Man sagt, sie sind aus Feuer erschaffen. Sie kommen ursprünglich aus dem fernen Morgenland. Aber manche sind vor langer Zeit, während der großen Kreuzzüge, hierher in den Norden gereist.
Dschinns können Menschengestalt annehmen und tun dies gewöhnlich auch, wenn sie sich unter unseresgleichen bewegen, aber eigentlich sind sie Luftwesen ohne Gestalt und Materie.“
„Geister?“, unterbrach ihn Isolde.
„Nicht ganz. Wie gesagt, sie können auch Menschengestalt annehmen. Niemand kann dann merken, dass sie eigentlich gar keine Menschen sind.“
„Und so ein Dschinn kann Tiere in Flaschen bannen?“, fragte Johann.
„Ja, es ist ein Dschinn-Zauber, Widersacher oder unliebsame andere Wesen in Gefäßen einzusperren. Niemand sonst kann so etwas. Es muss ein Dschinn gewesen sein, der die Bache in eine Flasche gezaubert hat.“
„Vielleicht ist ja auch Scotty in einer Flasche!“, rief Walburga in plötzlicher Erkenntnis. Im nächsten Moment schlug sie ihre Hand vor den Mund und sah die anderen schuldbewusst an. Es war aber inzwischen so dunkel, dass die ihre Geste nur erahnen konnten.
„Es ist jetzt auch egal“, kapitulierte Johann, „erzähl ihm von Scotty.“
Und abwechselnd berichteten sie von dem Narren, der Weinflasche, der Befreiung Phaias und ihrer Fahrt. Ihre Erzählung wurde lang, und als sie fertig waren, erschien am Horizont schon der erste Silberstreifen des Morgens.
„Das ist eine merkwürdige Geschichte“, sagte Jacob nachdenklich. „Lasst uns überlegen. Scotty ist auf jeden Fall ein Dschinn, denn sonst hätte er Phaia nicht in die Flasche sperren können. Aber offenbar ist er selbst in Not. Habt Ihr die Flasche bei Euch? Zeigt sie mir!“
Walburga kramte in ihrem Bündel und zog die gut gepolsterte Weinflasche heraus. Es war gerade hell genug geworden, um die Aufschrift erneut zu studieren.
Wem auch immer diese Flasche in die Hände fällt: Rettet mich! Ich habe Phaia in ihr eingesperrt. Öffnet die Flasche, wenn Ihr zur Reise bereit seid. Dann folgt der Wildsau. Sie wird ihren Herrn suchen. Ich bin auf einem Rittergut am Zickelberg. Ihr müsst mich dort finden. Ich will Euch reich belohnen und dieser fruchtbare Gutshof soll Euch gehören, auf dass Ihr so glücklich seid, wie wir es waren.
Scotty
„Oh je“, entfuhr es Jacob, als er mit Hilfe von Johann die verblasste Botschaft las. „Ich hatte es befürchtet!“
Die anderen schauten ihn in banger Erwartung an.
„Ein Ghul!“, flüsterte der Jäger und erbleichte. „Da ist ein Ghul am Werke. Möge Gott Euch beschützen.“
Und damit reichte er die Flasche zurück an Johann, als wolle er möglichst wenig mit ihr in Berührung kommen.
„Um Himmels willen, nun redet!“ Gottfried hätte Jacob beinahe geschüttelt.
Aber der schien sich erst konzentrieren und seine Gedanken sortieren zu müssen. Er schloss kurz die Augen und rieb mit den Fingern über seine Schläfen.
„Es gibt zwei Arten von Dschinns. Die normalen, die genau wie Menschen, je nach Charakter, mehr oder weniger freundlich sind. Aber dann gibt es auch einige wenige mit mehr Zauberkraft, die Ghule, und diese sind böse. Durch und durch. Sie sind gefährlich, weil ihr ganzes Bestreben nur darauf ausgerichtet ist, der Welt Unglück zu bringen und ihren Vorteil daraus zu ziehen.“
„Und woran erkennt Ihr, dass unsere Geschichte etwas mit so einem Ghul zu tun hat?“, fragte Walburga. Ihnen allen war bei Jacobs Worten angst und bange geworden.
„Daran, dass Phaia offenbar jemandem gehört und zu ihm zurück will. Ghule pflegen sich seltsame Begleiter wie Schoßhündchen zu halten. Wölfe, Drachen, starke und wilde Wesen, die sie ihrem Willen unterwerfen. Scotty wusste, dass Phaia überall die Anziehung ihres Herrn spüren und auf schnellstem Wege zu ihm zurückfinden würde.“
„Das heißt, dass unser Scotty dort gefangen ist, wo sich auch der Ghul befindet“, kombinierte Walburga.
„Und dass er bewusst Phaia in der Flasche ausgesandt hat, um seine möglichen Retter zu diesem Ort zu führen“, fügte Johann hinzu.
„Ja, und dieser Ort heißt Zickelberg und er ist verflucht!“, konstatierte Jacob.
„Ach, du meine Güte!“, stammelte Isolde.
„Warum wisst Ihr das alles?“, unterbrach Johann scharf die Unterhaltung. „Warum sollten wir Euch glauben?“
„Ich will es Euch erzählen“, antwortete Jacob. „Aber der Tag ist zurück und wir sollten noch ein paar Meilen hinter uns bringen, bevor wir länger rasten. Ich möchte sichergehen, dass uns Friedemanns Jäger nicht mehr einholen. Er wird sich Sorgen machen, aber nicht so viele Sorgen, dass er seine Fährtenleser länger als einen Tag entbehrt.“
Die vier waren so übernächtigt und überwältigt von Jacobs Erklärungen, dass sie kaum Widerstand zu leisten vermochten. Sie quälten sich auf ihre Ponys und hofften, dass die Tiere ohne größere Anstrengung Jacobs Pferd folgen würden.
Die Ponys hatten sich – im Gegensatz zu ihren Reitern – ausruhen können und schritten kraftvoll aus. Während sie ritten, aßen die ausgehungerten Reisenden von den Äpfeln und dem trockenen Brot in ihren Taschen.
Trotz ihrer Müdigkeit bemerkten sie, dass das Reiten leichter geworden war. Der Boden hatte sich verändert. Sie hatten die feuchte Moorlandschaft endgültig hinter sich gelassen und waren jetzt umgeben von trockener Heide, auf der verstreut kleine Kieferngehölze wuchsen. Phaias Spur zeigte keine klaren Klauenabdrücke mehr, aber einen aufgewühlten Streifen im sandigen Boden.
Sie ritten fast bis zum Mittag. Jacob führte sie zu einer Gruppe von großen Findlingen, zwischen denen sie sich einigermaßen geschützt fühlten. Es war kalt geworden und die Männer entzündeten, so rasch es ging, ein Feuer.
Aufseufzend rollten die Frauen ihre Wolldecken aus, wickelten sich, auf dem trockenen Sandboden liegend, darin ein und waren schon eingeschlafen, bevor sie noch die Augen ganz geschlossen hatten.
Johann und Gottfried taten es ihnen gleich. Jacob blieb wach, versorgte die Ponys und setzte sich dann, in eine Decke gewickelt, auf einen Findling. Nachdenklich schaute er über die Landschaft.
Fortsetzung im nächsten Kalendertürchen.
Nicht verpassen: Lesung des 13. Kapitels im Rahmen unseres Adventlichen Hoffestes am Samstag, 13. Dezember um 16.30 Uhr.
Du möchtest die ganze Geschichte an einem Stück lesen oder sie verschenken? “Hülsdorn - Eine Heldenreise” gibt es auch als Taschenbuch. Überall, wo es Bücher gibt, zum Beispiel HIER.
Du möchtest mehr über die Autorin wissen? Dann klicke HIER.