

Der letzte Teil ihrer Reise brach an und schien unter einem guten Stern zu stehen. Sie hatten auf Jacobs Rat hin entschieden, alle zu reiten und weiterhin keine umständlichen Kutschen mitzuführen. Walburga und Isolde nahmen sich die Freiheit, vorerst weiter in ihren Männerkleidern unterwegs zu sein.
Am ersten Tag legten sie in aller Bequemlichkeit gute vierzehn Meilen zurück und kehrten dann in einem Gasthaus ein, das Not hatte, so viele Personen und Tiere unterzubringen. Jedoch gereichte es dem braven Wirt nicht zum Schaden, dass er für alle ein Lager bereitete und ordentlich auftischte.
Nach dem Nachtmahl berieten sich die acht Gefährten über den vor ihnen liegenden Weg. Vom Schneider im letzten Dorf wussten sie jetzt, dass sie noch etwa zwei Tagesritte benötigen würden, bis sie den Ort Zickelberg erreichten.
„Wir sollten uns beizeiten in zwei oder drei Gruppen aufteilen“, schlug Jacob vor. „Phaia dürfte gestern, spätestens heute, ihren Herrn gefunden haben. Das bedeutet, dass der Ghul jetzt gewarnt ist. Er weiß nicht, wer Phaia befreit hat und wie viel derjenige über ihn weiß. Er will nicht als Ghul enttarnt werden und ist mit Sicherheit auf der Hut. Wir müssen damit rechnen, dass er nicht einfach nur auf uns wartet, sondern seinerseits Maßnahmen ergreift.“
„Also brauchen wir eine Tarnung, oder besser mehrere“, überlegte Friedrich.
„Ich sehe es kommen, dass wir wieder in Röcken reiten müssen“, warf Walburga resigniert ein, und die Männer grinsten.
Johann legte tröstend eine Hand auf die Schulter seiner Gattin. „Ich glaube, es täte dir mal wieder ganz gut, dich ziemlich zu benehmen“, scherzte er. „Du und ich wollen als reisendes Ehepaar nach Zickelberg hineinreiten. Wir könnten vorgeben, Tuchhändler zu sein und einzukaufen.“
„Überlasst das lieber uns“, warf Friedrich ein. „Die Weber würden sofort merken, dass Ihr überhaupt keine Ahnung von Stoffen und Leinen habt.“
Sie überlegten hin und her und beschlossen am Ende, dass sie als zwei Gruppen und zwei Einzelpersonen reiten wollten. Friedrich würde als Tuchhändler, begleitet von Gottfried und Isolde als Compagnon, nebst Gattin reisen.
Walburga und Johann sollten sich als Ehepaar mit ihrem Diener August ausgeben, das auf der Durchreise zu Verwandten im Städtchen Rast machte.
Jacob wollte versuchen, allein und unauffällig den Ort und die Gegend auszukundschaften, ohne überhaupt irgendwelche Bekanntschaften zu machen. Er sollte als Botschafter zwischen den Gefährten fungieren.
Und Wolfgang schließlich hatte vor, zuerst die Burg aufzusuchen und sich als reisender Edelmann vorzustellen. Um das betreffende Rittergut, von dem Phaias Weinflasche stammte, wollten sie einen großen Bogen machen, solange sie nicht mehr über den Ghul und seine Machenschaften in Erfahrung gebracht hatten.
Schon am nächsten Morgen hatten sie vor, in ihren neuen Rollen aufzubrechen. Es würde noch eine weitere Übernachtung in einem Gasthaus geben - diese aber nur für die beiden Dreiergruppen. Wolfgang und Jacob planten, den weiten Bogen, den die Straße schlug, quer durchs Gelände abzukürzen, und deutlich früher als alle anderen in Zickelberg anzukommen.
Und genauso machten sie es dann auch. Am nächsten Morgen brachen die Frauen in Miedern und Röcken auf und die beiden Trüppchen sorgten dafür, dass sie auf der Straße immer mehr Abstand zwischen sich ließen.
Jacob und Wolfgang verabschiedeten sich am späten Vormittag und nahmen querfeldein den direkten Weg nach Zickelberg. Alle waren angespannt und aufgeregt. Sie wussten nicht, wann sie sich wiedertreffen und wie dann die Umstände sein würden.
Am Abend im Gasthaus übten sich die verbleibenden sechs darin, so zu tun, als würden sie einander nicht kennen. Die „Tuchhändler“ Friedrich, Gottfried und Isolde speisten an einem Tisch und Walburga und Johann an einem anderen. Ihr „Diener“ August saß getrennt von der Herrschaft. Am nächsten Morgen sorgten sie dafür, nicht gleichzeitig aufzubrechen.
Heute würden sie das Ziel ihrer Fahrt erreichen!
Auf dem Weg über die Straße sahen sie jetzt vor sich einen dunkel bewaldeten Höhenzug, der sich, soweit das Auge reichte, von Ost nach West erstreckte. Die Erhebung einen Berg zu nennen, kam ihnen ein wenig übertrieben vor. Aber sei’s drum.
Jacob und Wolfgang erreichten Zickelberg schon am Nachmittag. Sie hatten durch ihre Abkürzung einen großen Vorsprung. Weit vor den ersten Häusern trennten sie sich mit einem ernsten Gruß. Wolfgang kehrte zurück zur Straße und Jacob suchte sich einen Weg zwischen abgeernteten Feldern und heruntergekommenen Bauernkaten.
Wolfgang ritt auf kürzestem Weg in das Dorf Zickelberg hinein. Eine Karrenspur führte ihn steil bergauf und durch einige enge Gassen bis zu einer großen, gepflasterten Straße, die direkt unter dem Burgtor mündete.
Ein Torwächter in der rotsamtenen Tracht der Burg vertrat ihm den Weg.
„Wenn Ihr einer der Schauspieler seid, dann kommt Ihr zu früh, noch sind wir nicht auf Gäste eingerichtet.“
Wolfgang wusste nicht, was er antworten sollte. Schauspieler? Das könnte ihm dienlich sein. Um mehr zu erfahren, stellte er sich als Edelmann Wolfgang von der Morgenröte vor.
„Tretet ein“, sagte der Torwächter. „Ich werde Euch dem Herrn der Burg melden. Wartet hier im Hof.“
Es waren dies Tage, in denen über das Jahr nur selten Reisende nach Zickelberg kamen. Denn alle, die schon einmal dagewesen waren, kehrten nicht wieder, wenn sie nicht durch Geschäfte dazu gezwungen waren. Einst war die Zickelburg eine beliebte Raststatt für Händler, ja sogar das Ziel vieler Vergnügungsreisender gewesen. Aber das schöne Städtchen war inzwischen mehr Schein als Sein.
Von alledem ahnte Wolfgang nichts. Der derzeitige Burgherr Rudolf war höchst erfreut, einen Edelmann als Gast zu haben. Er war begierig auf Neuigkeiten und voller Hoffnung auf ein gutes Gespräch. Und so fand sich Wolfgang des Abends im Rittersaal wieder. Er hatte ein Quartier mit allen Bequemlichkeiten zugewiesen bekommen und war zum Nachtmahl mit dem Burgherrn geladen.
Rudolf führte eine exzellente Tafel und Wolfgang genoss im warmen Schein eines riesigen Kaminfeuers ein herrliches Mahl aus gebratenem Zicklein, frisch gebackenem Brot, wunderbarem Käse und zarten Wintersalaten. Der Burgherr ließ einen edlen Wein einschenken und wartete, bis sein hungriger Gast, die erste Not gestillt hatte. Wolfgang – schlau wie er war – kam den höflichen Fragen des Burgherrn zuvor und begann das Gespräch.
„Erzählt mir von diesem Ort und Eurer Burg, Herr Rudolf, es interessiert mich doch zu sehr, wie es um dieses hübsche Städtchen bestellt ist.“
„Hübsch, pah!“, nahm Rudolf das Thema auf. „Wisst Ihr, Zickelberg war einmal ein wirklich schönes, blühendes Dorf. Jedenfalls behauptet das die Überlieferung. Jetzt ist es nur noch hübsch.“
Wolfgang schaute seinen Gastgeber mit hochgezogenen Brauen an, während er an einer knusprigen Keule nagte. Der Burgherr war ein stolzer Mann. Und offenbar gebildet. Aber er schien sehr unzufrieden zu sein.
„Ich weiß nicht, welche Pestilenz des Verstandes die Menschen hier befallen hat. Zu meinen Lebzeiten jedenfalls scheint das Ansehen des Zickelbergs eher geschrumpft als gewachsen zu sein. Einzig die fleißigen Weber halten uns noch aufrecht. Geschäftstüchtige Leute sind das, mit vielen Kontakten nach außerhalb. Aber den Alteingesessenen gefällt das nicht. Sie wollen hier keine Fremden. Und die Leute im Dorf sind sich nicht gut. Fehden über Fehden. Der eine gönnt dem anderen den Spruch über der Tür nicht.“
Nach allem, was Wolfgang von Jacob gelernt hatte, schien hier die Macht des Ghuls am Werk zu sein. Er warf seinen abgenagten Knochen ins Feuer und griff nach einem Stück Brot, um das würzige Bratfett aufzutunken.
„Und was tut Ihr, um dem entgegenzuwirken?“, fragte er.
„Ach, ich bin ein alter Narr“, erwiderte Rudolf. „Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben und veranstalte in jedem Jahr zur Wintersonnwende ein großes Festspiel mit Turnieren und Theateraufführungen.“
Wolfgang wagte sich ein wenig vor. „Oh ja, Eure Winterfestspiele sind berühmt!“
Rudolf nickte begeistert. „Ach, wirklich? Ist das so?“
„Aber ja! Sonst wäre ich nicht hier!“
Jetzt kam Rudolf, der Burgherr, richtig in Fahrt und berichtete von seinen alljährlichen Spielen, bei denen die besten Schauspieler und Dichter des Landes einander ein Stelldichein gaben.
„In drei Tagen beginnen die Sonnwendspiele“, erklärte Rudolf. „Ihr seid ein wenig früh dran, aber ich freue mich, Euch als Gast zu haben.“
„Erzählt mir mehr über Eure Wintersonnwendspiele“, forderte Wolfgang seinen Gastgeber auf. Rudolf nahm den Faden mit Freuden auf.
„Früher, zu Zeiten meines Vaters und Großvaters, waren die Sonnwendspiele richtige Turniere. Es gab Lanzenstechen und Schwertduelle. Eine recht blutige Angelegenheit, aber sehr beliebt und lukrativ! Heute gibt es keine Ritter mehr. Wir haben uns darauf verlegt, die feineren Künste einander gleichsam duellieren zu lassen. Die Sonnwendspiele sind ein Wettbewerb der Schausteller, Tänzer, Sänger, Dichter und Geschichtenerzähler. Ein wunderbares Spektakel. Ihr werdet sehen.“
„Sagt“, begann Wolfgang dann so beiläufig wie möglich, „hier soll es irgendwo einen schönen Hof geben. Ein Rittergut oder einen Gutshof.“
Rudolf überlegte einen Augenblick.
„Also - ‚schön‘ ist jetzt nicht das Wort, was ich wählen würde“, er stockte. Wolfgang wartete interessiert ab.
„Obwohl – “, Rudolf schien nachzudenken. „Ja, wenn ich es recht überlege, ist es ein wirklich schönes Gut unten am Fuß vom Berg.“
„Aber?“, versuchte Wolfgang seinem Gastgeber auf die Sprünge zu helfen.
„Tjaaaaaaaa. Nein, wirklich, es ist ein schönes altes Rittergut. Ein bisschen heruntergekommen vielleicht. Ich weiß nicht. War lange nicht mehr da. Man spricht nicht viel Erfreuliches davon. Was habt Ihr mit diesem Anwesen zu schaffen?“
„Ooooch …“ Wolfgang tat gleichgültig. „Mir wurde bei meiner Anreise auf der Landstraße empfohlen, dort vielleicht zu nächtigen.“
Der Burgherr schaute erstaunt. „Nein, das war kein guter Rat. Der Gutsherr hat selten Gäste. Oder nie?“ Rudolf kramte ein weiteres Mal in seinem Gedächtnis. „Nein, wirklich. Niemand scheint je dort hinzugehen. Obwohl – es liegt schon sehr schön…“. Er schien in Gedanken zu versinken.
Wolfgang hatte genug gehört. Es war alles so, wie Jacob es vermutet hatte: Der Ghul saß in seinem geraubten Domizil und vergiftete die Umgebung.
Sie redeten noch lange dort am Kaminfeuer und leerten so manchen weiteren Krug Wein. Wolfgang war ganz schummrig im Kopf, als Rudolf ihm endlich eine gute Nacht wünschte und sich in seine Gemächer begab. Ihm selbst fiel es schwer, seine Unterkunft wiederzufinden. Nicht nur, dass die Burg groß und dunkel war, Wolfgangs Sinne waren vom vielen Wein ganz vernebelt. Schließlich fand er sich fröstelnd auf dem Burghof wieder. Die Kälte brachte ein wenig seines berauschten Verstandes zurück.
Da hörte er ein leises „Psssssssssssssssssst, Wolfgang!“, vom Brunnen her. Es war Jacob, der die halbe Nacht dort auf ihn gewartet hatte.
„Oha! Jacöble“, scherzte Wolfgang. Aber der Jäger schien das nicht lustig zu finden.
„Schscht!“, bedeutete er mit an den Mund gelegtem Zeigefinger. „Meine Güte, Ihr seid ja total besoffen!“
Wolfgang kicherte leise. Jacob klemmte sich den Ellenbogen seines Mitverschwörers unter den Arm und wisperte: „Wo ist Euer Gemach?“
„Ja, wenn ich das mal wüsste, mein tapferes Jägerlein“, giggelte Wolfgang vor sich hin.
Jacob rollte mit den Augen. Hier war nichts mehr zu machen. Als sich eine Magd über den Burghof näherte, die anscheinend auch eine extravagante Abendunterhaltung erlebt hatte, stieß Jacob seinen Kumpan in die Seite, so dass dieser sein – ohnehin kaum vorhandenes – Gleichgewicht verlor und mit einem lauten „Autsch“ auf das Pflaster stürzte.
Jacob duckte sich in den Schatten. Die Magd schaute besorgt nach dem Edelmann auf dem Boden. Sie erkannte mit einem Blick, was hier das Problem war, hievte den Gast des Burgherrn hoch und schleppte ihn mit Ach und Krach in sein Gemach.
Jacob schlich hinterher. Er wartete in einer Nische am Ende des Gangs, bis sich die Magd endlich des Gastes entledigt hatte, die Tür hinter sich zuzog und in ihre eigene Kammer eilte.
Leise schlüpfte Jacob in Wolfgangs Gemach.
„Na, schöhnnnnss Kind“, lallte dieser. „Hassu dir das donnoch anners überlegt?“
„Haltet den Mund, Wolfgang! Ich bin es, Jacob!“
„Iiiiih“, tönte es enttäuscht vom Bett her.
„Schlaft jetzt. Ich werde es mir, wenn Ihr erlaubt, auch bequem machen, damit wir morgen früh reden können.“
Aber von Wolfgang war nur noch lautes Schnarchen zu vernehmen. Jacob war es zufrieden. Er streckte sich neben seinem trunkenen Kumpan aus und fiel alsbald selbst in tiefen Schlaf.
Fortsetzung im nächsten Kalendertürchen.
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