

Nach ihrem Jahrmarktbesuch waren Isolde, Gottfried, Walburga und Johann erst kurz vor Mitternacht wieder auf Johanns Landsitz eingetroffen. Dementsprechend spät fiel heute das Frühmahl aus.
Die zwei Paare fanden sich erst im Speisezimmer ein, als die Sonne schon hoch über dem Horizont stand. Trotzdem erschienen die Damen in ihren Nachtkleidern, über die sie nur leichte Hausmäntel angezogen hatten. Es war dies eine Extravaganz, die allein der Privatheit innerhalb des Freundeskreises und dem hell prasselnden Feuer im Kamin geschuldet war.
„Ich frage mich, wann die Köchin lernen wird, einen genießbaren Kaffee zu bereiten!“ Isolde verzog angewidert das Gesicht, als sie einen ersten Schluck aus ihrem Becher nahm.
„Ich zweifle daran, dass man dieses Gebräu überhaupt trinken kann“, erwiderte Johann. „Es ist bitter und lässt den Puls rasen. Auch wenn es tausendmal in Mode ist, ich bleibe beim Wein.“
„Vielleicht sollten wir mal dieses andere braune Zeug ausprobieren“, schlug Walburga vor. „Die Händler preisen es jetzt überall an. Sie nennen es, glaube ich, Kockoka oder Kackoka oder so.“ Die anderen lachten prustend.
„Ich weiß nicht, ob ich etwas trinken will, das braun ist und so einen Namen hat!“, kicherte Isolde und reichte Gottfried ihren Becher, damit er ihr Wein einschenke.
Sie verspeisten kleine, mit Anis gewürzte Weizenkuchen, die sie je nach Geschmack in Olivenöl oder Honig tunkten. Johann führte selbst beim privatesten Frühmahl eine exquisite Tafel.
Allerdings schienen die vier wenig davon wahrzunehmen, welche Köstlichkeiten sie verzehrten. Im Gegenteil, Isolde schaute äußerst missmutig, als sie sagte:
„Tja, nun ist der Jahrmarkt vorbei und man fragt sich, worauf man sich jetzt freuen soll.“
„Auf einen langen, dunklen Winter“, spöttelte Gottfried. Die anderen stöhnten bei dem Gedanken.
„Es wird furchtbar langweilig“, klagte Walburga. „Keine Gartenfeste, keine Landpartien und Picknicks. Und das Weihnachtsfest werden wir wieder nur zu viert begehen, weil kein Mensch bei Eis und Schnee mit der Kutsche fahren will.“ Resigniert kaute sie an ihrem Küchlein.
„So ein Leben wie diese Gaukler müsste man haben! Jeden Tag Jahrmarkt!“ Isolde stützte seufzend ihr Kinn in die Hand.
„Ach, jetzt, wo du es sagst!“, rief Walburga und sprang auf. „Lasst uns sehen, was wir vom Jahrmarkt mitgebracht haben!“
Sofort waren alle dabei. Isolde klatschte nach dem Dienstmädchen, das rasch den Tisch abräumte, und Johann schickte den Hausdiener hinaus, er solle die Pakete aus der Kutsche herbringen.
Es dauerte nicht lange und vor ihnen auf dem Tisch türmten sich Beutel und Päckchen, lederne Kästchen und auch allerlei unverpackte Mitbringsel. Die vier wühlten darin herum, nahmen dies und jenes in die Hand, probierten die kandierten Früchte und schnupperten an den Gewürzen.
Aber auf seltsame Weise hatten all diese wunderbaren Dinge außerhalb des Jahrmarkttreibens beträchtlich an Reiz verloren.
„Mein hundertstes rotes Seidentuch“, spottete Walburga und hielt das zarte Gewebe ins Gegenlicht. „Und dann auch noch schlecht gefärbt.“
In der Tat wies der Stoff kleine Flecke auf, die fast gar keine Farbe abbekommen hatten, während andere Stellen tiefrot waren. Das war Walburga gestern auf dem Markt gar nicht aufgefallen. Achtlos legte sie das Tuch auf den Tisch zurück.
Gottfried griff als erstes nach dem Bündel mit der Weinflasche und zog es zwischen den anderen Päckchen hervor.
„Halt! Das ist meins!“, rief Walburga freudig. Die Erinnerung an den tanzenden Narren erfüllte sie sofort wieder mit einem enthusiastischen Gefühl. Sie zog das Bündel zu sich und schlug behutsam das Tuch zurück.
Alle traten näher und beugten sich über den Tisch, um besser sehen zu können. Die Flasche war so schwarz, dass man sich fragte, ob das Glas überhaupt durchsichtig war. Eine so dunkle Farbe konnte ein Wein doch gar nicht haben. Walburga drehte das schwere Gefäß in ihren Händen. Sie fühlte Staub und Schmutz auf ihrer Haut und rieb ihn zwischen den Fingern.
„Hier, nimm das, es ist nichts wert.“ Isolde reichte ihr das fleckige rote Seidentuch. Dankbar nahm ihre Freundin es an und wischte damit über das grüne Glas, bis es glänzte. Dann hielt sie die Flasche gegen das Licht, welches die Herbstsonne durch die Fenster schickte.
Tatsächlich konnten sie jetzt am Flaschenhals eine Stelle zwischen Korken und Flüssigkeit erkennen, an der das Glas ein klein wenig durchsichtig war.
„Sehr ungewöhnlich“, bemerkte Johann. „So dunkles Glas habe ich noch nie gesehen.“
Gottfried nahm die Flasche in beide Hände und schätzte ihr Gewicht ab. „Es muss venezianisches Glas sein, das ist schwer und dickwandig. Und das würde bedeuten, dass die Flasche sehr alt ist.“
Walburga nahm ihm die Flasche wieder ab, drehte sich halb mit dem Rücken zum Fenster und hielt sie so ins Licht, dass sie das vordere Etikett genauer betrachten konnte. Es war stark vergilbt, etwas abgerieben und die Kanten waren ausgefranst. Aber man konnte trotzdem eine Zeichnung und Schrift erkennen.
„Ein Wildschwein!“, staunte Isolde und betrachtete die akkurat skizzierte Tiergestalt auf dem Etikett. Sie las die Aufschrift laut vor: „Phaia – was das wohl bedeuten mag?“
„Hinten ist auch noch etwas geschrieben“, bemerkte Isolde ungeduldig, und Walburga drehte die Flasche um.
Hier war es schon schwieriger, etwas zu erkennen, denn das Papier war eng beschrieben und an den Stellen, an denen der Zahn der Zeit genagt hatte, kaum zu entziffern.
„Lass mal sehen“, sagte Johann. Walburga reichte ihrem Gatten die Flasche. Der schien eine Weile zu lesen, runzelte die Stirn und die anderen platzten schier vor Neugier.
„Nun sag schon!“ Geduld war noch nie Isoldes Stärke gewesen.
„Es ist eine Art Brief“, sprach Johann mehr zu sich selbst. „Aber der Sinn erschließt sich mir nicht.“ Dann hob er den Kopf, reichte die Flasche an Gottfried und klingelte nach dem Diener.
„Papier und Feder und den Lesestein“, befahl er, als dieser in der Tür erschien.
Wenig später hatte der Diener das Gewünschte gebracht und Johann saß wieder am Tisch. Sorgfältig in das Tuch gebettet, damit sie nicht wegrollte, lag die Weinflasche vor ihm. Nahebei Papier und Feder nebst einem Tintenfässchen.
Johann hielt den Lesestein dicht über das Etikett und die Schrift erschien durch den geschliffenen Kristall größer.
Buchstabe für Buchstabe zeichnete er den gesamten Text des Etiketts deutlich lesbar auf das Blatt Papier. Es war eine mühsame Arbeit. Die Spannung der anderen stieg, als sie nach und nach die Inschrift in Johanns schwungvoller Schrift auf dem Papier lesen konnten:
Wem auch immer diese Flasche in die Hände fällt: Rettet mich! Ich habe Phaia in ihr eingesperrt. Öffnet den Korken, wenn Ihr zur Reise bereit seid. Dann folgt der Wildsau. Sie wird ihren Herrn suchen. Ich bin auf einem Rittergut am Zickelberg. Ihr müsst mich dort finden. Ich will Euch reich belohnen und dieser fruchtbare Gutshof soll Euch gehören, auf dass Ihr so glücklich werdet, wie wir es waren.
Scotty
„Scotty?“, fragte Gottfried gedehnt. „Soll das ein Name sein?“
„Es klingt irgendwie schaurig“, sagte Isolde fröstelnd, „und auch traurig!“
„Vielleicht ist da wirklich jemand in Not!“ Walburga fühlte sich verantwortlich. Schließlich war ihr die Flasche geschenkt worden. „Ob der Narr das extra gemacht hat? Also MIR die Flasche gegeben?“
„Das werden wir herausfinden“, schnaubte Johann wütend. „Den Kerl werde ich zur Rede stellen!“
„Was? Wo willst du hin?“
„Ich reite zum Jahrmarkt. Allein bin ich viel schneller als mit der Kutsche. Die Schausteller werden sicher noch da sein und ihre Sachen packen. – Und ihr Geld zählen“, fügte er grimmig hinzu.
„Ich komme mit“, rief Gottfried und eilte sich, seinen Reitermantel anzuziehen.
Die Frauen waren noch gar nicht dazu gekommen, irgendetwas dazu zu sagen, da hörten sie schon die Hufe der Pferde den Weg entlangtraben.
„Wenigstens haben sie die Flasche hiergelassen.“ Walburga strich gedankenvoll über das alte Glas.
„Was meinst du, steckt hinter dieser merkwürdigen Nachricht?“, fragte Isolde. „Warum schreibt jemand, der in Not ist, seinen Hilferuf ausgerechnet auf eine Weinflasche?“
Walburga dachte einen Augenblick nach. „Na, weil die Flasche irgendwie Teil davon ist. Ich verstehe es zwar nicht, aber diese Phaia muss damit zu tun haben. Man soll ja die Flasche öffnen. - Sollen wir sie mal öffnen?“
„Untersteh dich!“, rief Isolde erschrocken. „Du machst nichts dergleichen! Das müssen wir zusammen mit Johann und Gottfried beraten. Wer weiß, was da alles passieren kann!“
„Es ist meine Flasche. Ich kann damit machen, was ich will!“ Walburga war nahe daran, ihre Idee wahrzumachen. Aber dann wickelte sie den Wein wieder in das Tuch. Trotzdem konnte sie sich nicht von dem Thema trennen und hielt das Bündel in ihrem Arm, als müsse sie es beschützen.
„Zickelberg“, sinnierte sie. „Wo das wohl sein mag?“
„Ich habe noch nie von so einem Ort gehört“, antwortete Isolde. „Aber ich frage mich, was es mit der Wildsau auf sich hat. Zeig noch mal die Flasche, da war doch vorne eine Bache drauf, oder?“
Die beiden Frauen betrachteten noch lange die Etiketten, überlegten hin und her, aber sie konnten sich keinen Reim darauf machen.
„Am Ende erfahren wir sowieso gar nichts“, seufzte Isolde. „Außer Johann findet diesen Narren oder ...“
„Oder was?“
„Oder wir öffnen wirklich die Flasche, wenn die Männer wieder da sind.“
„Aber das können wir nicht machen“, rief Walburga empört. „Das darf man doch nur, wenn man wirklich aufbrechen will, um diesen Scotty zu befreien. Damit kann man doch nicht einfach so herumspielen.“
Es war soweit: Walburga hatte die Geschichte mit der Flasche zu ihrer Herzenssache gemacht. Wer auch immer Scotty war, er stand jetzt unter ihrem Schutz.
„Nein, nein, natürlich darf man damit keine Späße machen“, bemerkte Isolde hintergründig. „Aber wir könnten uns vielleicht wirklich auf die Suche nach diesem Zickelberg machen.“
Walburga schaute ihre Freundin mit großen Augen an.
„Nur so!“, verteidigte sich Isolde vor diesem Blick. „Als nette Ferienreise!“
„Ferienreise? Im Herbst?“ Walburga hob die Augenbrauen fast bis zum Haaransatz.
„Ach, komm, vergiss es“, lenkte Isolde ein. „Lass uns die Flasche eine Weile weglegen und uns anziehen. Wir sollten einen Spaziergang machen. Ein bisschen frische Luft wird uns guttun.“
Es war schon fast dunkel, als Johann und Gottfried auf schweißnassen Pferden wieder auf den Hof ritten. Sie übergaben die Tiere dem Stallknecht und eilten sich, nach drinnen zu kommen.
Die Frauen liefen ihnen aufgeregt entgegen.
„Und? Was sagt er? Habt ihr ihn gefunden?“
Aber die Männer schüttelten die Köpfe.
„Der Festplatz war schon so gut wie leer. Die Gaukler sind wohl schon früh am Morgen aufgebrochen.“
„Alles umsonst!“ Johann warf ärgerlich seine ledernen Reithandschuhe auf den Tisch.
Aber die Frauen kannten ihre Männer und hatten veranlasst, dass ein reichhaltiges, wärmendes Mahl bereitet wurde. Und tatsächlich ließen sich Johann und Gottfried bei einem großen Stück Braten mit den letzten zarten Gemüsen des Jahres versöhnen.
Nach dem Essen, bei Wein und köstlichem süßen Gebäck, sprachen sie wieder von der seltsamen Botschaft auf der Flasche.
„Was soll uns hindern?“, fragte Isolde mit betonter Leichtigkeit. „Wir gehen einfach ein bisschen mit der Kutsche auf Reisen. Wir packen ein paar Sachen, öffnen die Flasche und dann werden wir ja sehen, was passiert.“
Gottfried sah das pragmatisch: „Wahrscheinlich passiert gar nichts, außer dass irgendeine stinkende Brühe aus der Flasche läuft und wir wie die Schafsköpfe neben einer gepackten Kutsche stehen.“
„Egal, was passiert“, Johann war ausnahmsweise der gleichen Meinung wie sein Freund, „wenn wir jetzt auf eine Reise gehen wollen, müssen wir entweder in wenigen Tagen zurück sein oder es wird verdammt ungemütlich.“
„Ach, ihr seid langweilig“, schmollte Isolde.
Walburga blickte verunsichert von einem zum anderen. Sie war diejenige, die am meisten an dem Komfort ihres Landsitzes hing. Aber sie war auch diejenige, die sich den ganzen Tag furchtbare Sorgen um diesen Scotty gemacht hatte.
„Ob er wohl noch lebt?“, fragte sie ängstlich. „Das Etikett ist schon so alt. Womöglich ist er ja längst tot und vermodert, wenn er irgendwo eingesperrt wurde.“
Walburga schauderte bei der Vorstellung. Aber noch schlimmer erschien ihr der Gedanke, dass dieser arme Scotty nach langer Gefangenschaft immer noch lebte und sie allein ihn retten konnte.
„Vielleicht bleibt ihm nur noch kurze Zeit und wir müssen uns beeilen, um ihn noch lebend zu finden.“
„Und dann wäre da auch die Belohnung nicht zu vergessen“, warf Isolde ein. „Ein Rittergut, das wäre doch was für uns. Da ist es bestimmt auch im Winter nicht langweilig. Stellt Euch vor, wir hätten immerzu Gäste aus fernen Ländern!“
Johann verdrehte die Augen. Es konnte nicht wahr sein, dass hier überhaupt irgendjemand diese merkwürdige Nachricht ernst nahm.
„Ich würde schon gerne das Haus meines Alten gegen ein eigenes Rittergut eintauschen“, überlegte Gottfried laut. Isolde lächelte. Sie wusste, dass ihr Mann nur ein bisschen Zeit brauchte, um von der Idee angesteckt zu werden, dieses kleine Abenteuer zu begehen. Die Aussicht auf irgendetwas, das diesen Winter beleben könnte, ließ sie alle Bedenken als unwichtig betrachten.
„Ihr seid ja wahnsinnig“, stöhnte Walburga und machte damit deutlich, dass sie mitgehen würde, wenn alle gingen.
Johann setzte ein sehr vernünftiges Gesicht auf und verkündete: „Gut! Wenn ihr unbedingt wollt: morgen früh packen wir die große Reisekutsche. Wenn wir bereit sind, öffnen wir die Flasche. Sollte dann auch nur irgendetwas geschehen, was dieser Botschaft ein Recht gibt, ernst genommen zu werden, dann brechen wir auf. Wenn nichts passiert, wird die Kutsche wieder ausgeräumt und wir verlieren nie wieder ein Wort darüber. Einverstanden?“
Alle stimmten zu.
Und alle schliefen in dieser Nacht sehr schlecht.
Johann kamen in der Stille des dunklen Schlafgemachs Zweifel, ob nicht doch irgendetwas an der Geschichte dran sein könnte.
Eigentlich wollte er den anderen nur beweisen, dass die Flasche eine alberne Fälschung war, eine Jahrmarktsspielerei. Aber wenn nun tatsächlich etwas passierte? Vielleicht verbarg sich noch eine Nachricht im Inneren der Flasche. Was, wenn sie tatsächlich so kurz vor dem Winter auf eine Reise gehen würden? Wer sollte die Verantwortung dafür übernehmen? Und wer sollte das alles bezahlen?
Gottfried grübelte lange darüber nach, ob er sich erlauben sollte, die ganze Sache ernst zu nehmen und auf ein eigenes Rittergut und wer weiß was noch für Reichtümer zu hoffen. Man durfte sich nicht lächerlich machen. Aber man durfte Chancen auch nicht ungehindert vorbeiziehen lassen.
Isolde konnte nicht schlafen, weil sie im Kopf unablässig lange Listen von Dingen aufstellte, die sie unbedingt einpacken musste und auf keinen Fall vergessen durfte. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie womöglich bei eisiger Kälte und permanenter Nässe reisen würden, und sie war nahedaran, zu bereuen, das Ganze forciert zu haben. Aber die Vorstellung, ein echtes Abenteuer zu erleben, reizte sie so ungemein, dass sie sofort wieder in Angst verfiel, die Reise könnte nicht stattfinden.
Allein Walburga war in Gedanken mit dem Opfer der ganzen Geschichte befasst und malte sich grausige Bilder von Kerkern und Ketten, Hunger und Folter aus.
Und die Nacht war lang. So lang, dass gegen die frühe Dämmerung doch noch alle in einen kurzen, unruhigen Schlaf fielen.
Am Morgen kamen sie sich vollkommen lächerlich vor. Die gewohnten Handgriffe und Rituale des Tagesbeginns empfanden sie als nah und real. Wohingegen alle Gedanken des gestrigen Abends und der Nacht albern und phantastisch erschienen. Solch besondere Begebenheiten passierten anderen Menschen in erzählten Geschichten, aber nicht einem selbst.
Betreten fanden sie sich im Speisezimmer ein – die Damen sogar komplett angekleidet. Es war Johann, der darauf beharrte, den Plan durchzuführen. Und wenn sie sich umsonst wer weiß was für Mühe machen würden: Er wollte dieses Exempel statuieren. Und insgeheim wusste er nicht, ob er wirklich hoffte, dass sie die Kutsche wieder ausräumen müssten.
Die Frauen fühlten sich albern, als sie die großen Reisetruhen bestückten. Isolde warf mehr oder weniger achtlos einige Kleider hinein. Walburga brauchte lange, sich zu entscheiden, was sie mitnehmen sollte, obwohl sie kaum noch an eine wirkliche Abfahrt glaubte.
So fanden sie sich alle vier am späten Vormittag im Hof vor der gepackten Kutsche ein. Kein Diener saß auf dem Bock. Ihnen klopfte nun doch das Herz, als Gottfried die Weinflasche brachte und Johann entschlossen mit einem festen Griff am Korken zog.
Mit einem dumpfen Geräusch rutschte der Korken aus dem Flaschenhals. Zuerst schien es, als würde die Flüssigkeit darinnen qualmen. Mit großen Augen starrten die vier auf die Flasche in Gottfrieds Händen. Der hielt sie möglichst weit von sich und den anderen entfernt. Dann verdichtete sich vor ihren ungläubigen Augen der Rauch direkt über der Öffnung und begann zu wirbeln und sich im Kreis zu drehen. Ein Geräusch, wie von einem Sturm, wurde laut. Dunkler Nebel raste in Spiralen aus der Flasche und wurde größer und größer.
Gottfried machte einen Ausfallschritt nach hinten und lehnte sich gegen den Rückstoß, den er in den Händen fühlte. Alle vier schrien zugleich laut auf.
Fassungslos sahen sie zu, wie der rasend wirbelnde Rauch sich unter lauten Sturmgeräuschen zu einem tiefen Schwarz verdichtete. Dann zeichneten sich die Umrisse einer riesigen Wildsau ab. Das Untier schien einige Sekunden zu brauchen, um sich seiner Gestalt bewusst zu werden, dann schnaubte es wie ein Drache, riss die kleinen Äuglein auf, hielt die Nase in die Luft und stob augenblicklich wie angestochen davon. Die Bache rannte wie irre auf den Wald zu und verschwand darin.
Starr vor Schreck und schwer atmend verharrten die vier Freunde und versuchten, dem Aufruhr in ihrem Körper und ihren Gedanken Herr zu werden. Isolde fand als Erste zu sich.
„Es ist wahr! Es ist alles wahr! Wir müssen hinter ihr her! Die Sau ist Phaia!“
Unvermittelt brach Hektik unter ihnen aus. Was auch immer sie in der vergangenen Nacht für Gedanken und Sorgen gehabt hatten – jetzt war alles anders. Damit hatte niemand von ihnen wirklich gerechnet.
„Ich muss meine Kiste neu packen“, rief Isolde in jäher Erkenntnis.
„Ich auch“, sagte Walburga.
„Wir brauchen Vorräte, und Geld“, murmelte Gottfried vor sich hin, als er sich auf den Weg in die Küche machte.
Johann zögerte noch einen Augenblick. Erstaunt hielt er die Flasche, die genauso schwer war wie vorher, gegen das Licht: Sie war bis obenhin voll mit Wein! Vorsichtig näherte er seine Nase dem offenen Flaschenhals und schnupperte.
In der Kälte und durch die enge Öffnung war nicht wirklich ein Bouquet wahrzunehmen, aber das, was ihm an Aromen entgegenströmte, war zweifellos exquisit. Allerdings war dies nicht der richtige Augenblick, sich darüber zu wundern, also verkorkte er die Flasche sorgfältig und packte den Wein gut gepolstert in die Reisekutsche.
Johann eilte ins Haus, um seinerseits noch das eine oder andere zu holen, was ihnen unterwegs nützlich sein könnte.
Gottfried war unterdessen die Kristallkugel eingefallen, die noch immer in der Tasche seines Mantels steckte. Es war verrückt, aber wenn eine Wildsau aus einer Weinflasche hervorkommen konnte, warum sollte man dann nicht Nutzen aus einer Kristallkugel ziehen?
Es dauerte Stunden, bis sie wirklich für eine Reise im Spätherbst gerüstet waren. Die Kutsche war voll bepackt, vier der kräftigsten Pferde waren eingespannt und ein zusätzliches Handpferd stand bereit. Die Reisenden hatten ihre komplette Garderobe gewechselt und fanden sich nun in wenig feinen, aber dafür warmen und praktischen Gewändern ein.
„Steigt ein“, sagte Johann. Es brauchte kein Wort mehr zu ihrer Entscheidung gesagt zu werden. Ihnen allen klopfte das Herz. Aber es gab für niemanden auch nur die Spur einer Chance, zurückzubleiben. Sie wussten, dass sie es tausendmal bereuen würden, aber sie wollten aufbrechen. Alle! Und alle aus dem gleichen Grund: Hier gab es etwas Wichtiges zu erledigen! Sie hatten vor ihren eigenen Augen gesehen, dass die Inschrift auf der Flasche der Wahrheit entsprach. Und jetzt wollten sie den Schreiber der Botschaft finden. Sie wollten aufbrechen, sich auf die Probe stellen, herausfinden, ob sie Helden sein konnten – koste es, was es wolle.
Also stiegen sie ein. Johann saß auf dem Kutschbock, ergriff die Zügel und schnalzte mit der Zunge. Die Pferde setzten sich in Bewegung, die Räder begannen, sich zu drehen.
Sie waren unterwegs.
Fortsetzung im nächsten Kalendertürchen.
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