

Das spätherbstliche Wetter zeigte sich kühl, aber freundlich. Die letzten Blätter der Bäume leuchteten golden in der Sonne. Den Damen in der Kutsche erschien ihre Fahrt nun doch wie eine Ferienreise. Sie erfreuten sich an der Landschaft und sprachen fröhlich und aufgeregt über ihr begonnenes Abenteuer. Zwischendurch machten sie Halt, ließen die Pferde grasen und nahmen einen kleinen Imbiss aus Weizenkuchen und kaltem Braten zu sich.
Die Männer fuhren in langen Wollmänteln auf dem hohen Kutschbock. Phaia hatte mit ihren riesigen Klauen deutliche Spuren im feuchten Boden hinterlassen und sich an den Fahrweg gehalten, anstatt im dichten Unterholz zu verschwinden. Sie konnte also mühelos von der Kutsche aus verfolgt werden. Dennoch schien sie sich möglichst nah am Wald zu halten oder strikt nach Süden zu laufen. Das ließ sich bis hierher noch nicht sicher unterscheiden. Der direkte Weg nach Süden würde aber bald für eine lange Strecke durch dichten Wald führen.
„Was meinst du?“, fragte Gottfried seinen Freund. „Können wir dieses Tier mit der Kutsche einholen, oder ist sie schneller?“
„Kommt darauf an, wie lange sie in einer Tour durchhält und ob sie auch nachts läuft.“
Johann schaute nach Westen, wo die tiefstehende Sonne schon durch die Bäume schien.
„Wir können bis zur Dunkelheit vielleicht noch zwei Stunden fahren, aber besser für die Pferde wäre es, schon früher für die Nacht anzuhalten.“
Sie hatten jetzt an die zwölf Meilen zurückgelegt. Zwar waren die Pferde gut trainiert, aber ganze Tagesritte waren dennoch eine Belastung für sie. Johann wollte sichergehen, dass die Tiere nicht vor Erschöpfung stolperten und sich verletzten.
„Ich kenne einen Gasthof in der Nähe, dort könnten wir übernachten.“
Gottfried nickte. „Ja, den kenne ich auch, das wird für uns passen.“
Der Gasthof lag hinter einer offenen Ebene am Waldrand und es dämmerte bereits, als die Pferde schnaubend und geschwitzt vor dem Hoftor anhielten.
Isolde und Walburga stiegen ächzend aus der Kutsche. Das lange Sitzen und Schaukeln hatte ihre Muskeln steif werden lassen. Aufatmend streckten sie sich in der frischen Luft.
Der Wirt trat aus dem Tor und hieß sie willkommen. Bald war für Mensch und Tier eine Unterkunft bereitet. Die Pferde kauten dankbar ihren Hafer und die Reisenden saßen in der warmen Gaststube bei einem kräftigen Mahl aus Bohnen, Brot, Käse und Bier.
Die vier waren höchst zufrieden mit diesem Tag. Ihre Augen leuchteten und ihre Gesichter waren von der vielen frischen Luft und der Wärme in der Gaststube gerötet.
„Wenn sich bloß diese Sau nicht über Nacht einen riesigen Vorsprung verschafft“, befürchtete Isolde.
„Wenn du den ganzen Tag auf deinen Füßen gelaufen wärest, müsstest du auch irgendwann mal schlafen.“ Johann schob sich einen weiteren Löffel mit heißen, gewürzten Bohnen in den Mund.
„Du willst mich jetzt nicht mit einer Wildsau vergleichen“, rief Isolde in gespielter Empörung, und die anderen lachten.
„Ich habe keine Ahnung, wie viele Stunden am Tag oder in der Nacht Wildschweine schlafen. Und dann ist da noch die Frage, ob sich dieses Tier mit einem normalen Wildschwein vergleichen lässt. Immerhin ist es aus einer Flasche geflogen.“
„Pssssssst!“, mahnte Gottfried leise und mit einem Seitenblick auf die Tür zur Küche. „Wir sollten niemandem von Phaia und dem Zweck unserer Reise erzählen.“
Die anderen nickten.
„Ich habe dem Wirt gesagt, dass wir Verwandte besuchen“, sagte Johann und schob gähnend seinen leeren Teller von sich. „Ich könnte jetzt zehn Stunden am Stück schlafen. Lasst uns zu Bett gehen!“
Sie waren alle müde und wiesen den Wirt an, sie vor dem Morgengrauen zu wecken, ein einfaches Frühmahl zu bereiten und ihnen ein Bündel mit Wegzehrung zu packen.
Tatsächlich schliefen alle vier tief und fest. Und als der Wirt an ihre Türen klopfte, waren sie überzeugt, gerade erst eingeschlafen zu sein.
Isolde fiel es am schwersten, aus den warmen Federn des Gasthausbettes zu steigen. Ihr schmerzten von der gestrigen Kutschfahrt alle Knochen und sie fragte sich, worauf sie sich da bloß eingelassen hatte.
Aber als sie an dem blankgescheuerten Eichentisch in der warmen Gaststube saßen und dampfende Grütze mit Honig aßen, erwartete auch Isolde den kommenden Tag mit Spannung.
Ob sie die Spur der Wildsau weiter so leicht verfolgen konnten? Es hatte in der Nacht nicht geregnet und ihre Chancen standen gut. Sie waren begierig, aufzubrechen.
Gottfried bezahlte den Wirt und sie bestiegen die schon bereitstehende Kutsche. Die Pferde stampften unruhig und schienen auch gern den Weg wiederaufzunehmen.
Kaum war die Morgendämmerung über den Horizont gestiegen, da fuhren sie los und in das Dämmerlicht des Waldes hinein. Der alte Fahrweg war auf beiden Seiten von hohen Nadelbäumen gesäumt.
Es dauerte nicht lange, bis Gottfried das Handpferd losbinden und der Kutsche vorausreiten musste. Dieser Wald war so dicht, dass kaum etwas von dem blassen Tageslicht über den Wipfeln bis auf den Waldboden drang.
Einige Meilen lang hing Gottfried halb aus dem Sattel, um Phaias Spur auf dem Boden erkennen zu können. Sie kamen nur langsam auf dem holprigen, von Wurzeln durchzogenen Weg voran.
Und als ob das nicht genug wäre, stellte Gottfried gegen Mittag fest, dass Phaias Spur plötzlich nach Westen unter die Bäume abbog. Der Fahrweg verlief weiter leicht südöstlich. Sie hielten an, um sich zu beraten.
Isolde und Walburga nutzten die Pause, um sich die Beine zu vertreten, aber sie fühlten sich unwohl außerhalb der Kutsche in diesem düsteren Wald. Johann und Gottfried untersuchten die Spur und folgten ihr ein paar Meter unter die Bäume. Es gab hier kein Unterholz. Der Boden war, von einigen überständigen, halb verfaulten Pilzen abgesehen, fast vollkommen unbewachsen und von einer dicken Schicht aus Fichtennadeln bedeckt. Hier und da lagen vermodernde Stämme von gestürzten Bäumen, aber sonst war der Untergrund, soweit sie sehen konnten – und das war nicht sehr weit – eben und frei.
„Ich schätze, sie wollte die ganze Zeit schon nach Westen oder Südwesten, kam aber auf dem Fahrweg schneller voran“, überlegte Johann laut. „Hier kann sie ihre Richtung frei wählen, denn es gibt keine Hindernisse unter den Bäumen.“
Gottfried beugte sich nieder und betrachtete die Klauenabdrücke. „Es wird schwieriger, die Spur zu erkennen. Die Nadeln machen den Boden elastisch.“
„Die Kutsche kann auf keinen Fall zwischen den Bäumen hindurchfahren!“, stellte Isolde fest. Sie war mit Walburga herangekommen und hatte das Gespräch der Männer mit angehört.
„Nein“, konstatierte Johann, „wir würden wahrscheinlich irgendwann hoffnungslos steckenbleiben und nicht mehr wenden können.“
Ratlos standen sie auf dem Waldboden und schwiegen nachdenklich.
„Wie wäre es, wenn einer auf dem Pferd die Spur verfolgt?“, überlegte Walburga. „Der Wald kann ja nicht endlos sein. Irgendwo werden sowohl unser Fahrweg als auch die Wildsau wieder herauskommen. Der Reiter müsste sich dann am Waldrand nur nach Osten wenden und würde uns treffen.“
Die anderen schauten sie einen Augenblick an. „Könnte funktionieren“, sagte Johann.
„Könnte aber auch ein Riesenproblem werden“, kommentierte Gottfried. „Waldränder sind ja nicht wie Tellerränder. Wald kann licht und wieder dicht werden. Der Reiter könnte sich auch verirren.“
„Kennt sich einer von Euch mit dieser Gegend hier aus?“, fragte Isolde, die sich in ihrem ganzen Leben noch nicht mit Landkarten oder Straßenverläufen befasst hatte. Bisher hatte sie noch bei keiner Kutschfahrt auch nur ansatzweise versucht, sich den Weg zu merken.
„Diesen Weg hier habe ich noch nie genommen“, antwortete Johann, „aber ich weiß, dass der Forst bis zu einer Handelsstraße reicht, die genau von Osten nach Westen führt und den Wald von einem weitläufigen Moor trennt.“
„Dann müssten, wenn wir Walburgas Rat folgen, irgendwann sowohl der Reiter als auch die Kutsche auf dieser Straße ankommen.“ Gottfrieds Stimme klang hoffnungsvoll.
„Und wo eine Handelsstraße ist, da ist sicherlich auch ein Gasthaus“, freute sich Isolde.
„Gut!“, sagte Johann. „Wer von uns beiden reitet?“ Die Männer blickten sich in die Augen.
„Ich reite“, beschloss Gottfried und Johann nickte.
Isolde schniefte ein bisschen hinter ihrem Taschentuch, während ihr Mann die Reste des gestrigen Proviants in eine Satteltasche packte. Sie sorgte sich sehr um Gottfried und fürchtete sich bei der Vorstellung, hier im Wald von ihm getrennt zu sein. Aber natürlich war sie auch stolz auf ihren mutigen Gatten und lächelte ihn tapfer an, als er sie an sich zog, um sich zu verabschieden.
Die drei Zurückbleibenden lauschten noch einige Minuten dem leisen Klopfen der Hufe auf dem weichen Waldboden. Dann stiegen die Frauen wieder in die Kutsche und Johann schnalzte mit der Zunge, um den Pferden zu bedeuten, dass es weiterging.
Es war eine stille Fahrt. Johann saß allein vorn und die Frauen waren so in Sorge, dass jede Unterhaltung bald erstarb.
Gottfried hingegen genoss zunächst die gedämpfte Stille des Waldes. Der Nadelteppich schluckte jedes Geräusch. Erst jetzt fiel ihm auf, wie viel Lärm die Kutsche gemacht hatte und dass er sich mit Johann auf dem Kutschbock immer nur mit lauter Stimme hatte unterhalten können. Hier aber war alles angenehm leise und er ließ sein Pferd im Schritt gehen, um die Spur nicht zu verlieren.
Mit der Zeit erkannte er die Zeichen, welche die Wildsau hinterlassen hatte, immer besser und ritt etwas schneller. Der Nadelboden war dort, wo die Spur verlief, ein klein wenig dunkler. Und die abgestorbenen, dicht über dem Boden gewachsenen, dünnen Ästchen der Fichten waren überall dort abgebrochen, wo Phaia vorbeigekommen war. Gottfried entwickelte einen Blick für diese Art von Fährte und konnte Phaias eiligen Weg durch den Wald wie einen kleinen Tunnel vor sich sehen.
Aber mehr als zuweilen ein langsamer Trab oder zügiger Schritt war nicht möglich, und dem einsamen Reiter wurde klar, dass er wahrscheinlich bis weit in die Dämmerung unterwegs sein würde. Ihm wurde ein wenig mulmig zumute bei dem Gedanken, dass die Nacht hereinbrechen könnte, bevor er zur Straße gelangt war.
Der Himmel war wolkenverhangen und Gottfried hätte überhaupt nicht mehr angeben können, in welche Richtung er ritt. Erst als ihm der Sonnenuntergang eindeutig zeigte, wo Westen lag, erkannte er, dass er inzwischen wieder nach Süden unterwegs war – genau wie geplant. Etwas beruhigt und beflügelt versuchte er, sich zu beeilen, aber das nachlassende Tageslicht bremste ihn, er wollte Phaias Fährte nicht verlieren.
*
Johann und die beiden Frauen waren eine ihnen endlos erscheinende Zeit durch den Wald gefahren, bis sie in der Ferne vor sich Helligkeit sehen konnten. Tatsächlich führte der Weg dort wieder ins Freie. Es gab keinen langsamen Übergang von lichteren Bäumen, sondern der Wald endete wirklich wie der von Gottfried beschriebene Tellerrand. Als sie aus der grünen Dämmerung hinausfuhren, schauten sie über eine weite Ebene und der Wald hinter ihnen stand wie eine Wand.
Genau quer zu ihrem Fahrweg verlief eine Straße mit ausgefahrenen Räderspuren. Johann erkannte, dass er sich geirrt hatte: Dies war zwar ein offenbar häufig benutzter Weg, aber es war nicht, wie angenommen, die Ost-West-Straße. Eine Handelsstraße müsste so breit sein, dass mindestens zwei Gespanne nebeneinander fahren konnten, und sie wäre auch größtenteils gepflastert. Dies hier war ein besserer Karrenweg. Er beschloss, den Frauen nichts davon zu sagen, um sie nicht unnötig zu beunruhigen.
Entgegen der Abmachung ließ er die Kutsche nach links und Osten abbiegen. Er meinte, sich zu erinnern, dass in der Nähe eine kleine Stadt lag. Wenn sie Hoffnung auf eine Nacht in einem Gasthaus haben wollten, dann mussten sie dorthin. Nach Westen gab es hier auf viele Meilen kein Dorf, keine Siedlung und nichts. Gottfried würde so lange Richtung Osten reiten, bis er die Kutsche oder das Städtchen erreichte, und so würden sie sich hoffentlich wiedertreffen.
Johann trieb die Pferde zur Eile an. Halb, weil er bald in die sicheren Mauern eines bewohnten Ortes gelangen wollte, und halb, um den beunruhigten Fragen der Frauen auszuweichen.
*
Das nachlassende Tageslicht trieb Gottfried zur Eile. Phaias Spur ging seit geraumer Zeit immer schnurstracks geradeaus und er konnte traben. Dennoch schien der Wald kein Ende zu nehmen. Bei dem Gedanken an eine Nacht hier unter den Bäumen erfasste ihn eine unbekannte Furcht. Sein ganzes Leben lang hatte Gottfried nie eine ungeschützte Nacht verbracht. Selbst wenn er unter den Sternen geschlafen hatte, dann immer in der Nähe eines Hauses und in Gesellschaft von Freunden (oder Freundinnen). Er war kein Feigling, aber er hatte sich noch nie auf die Probe stellen müssen.
Gottfried wusste nicht, ob es seine nervöse Phantasie war, oder ob er wirklich ab und zu vor sich ein entferntes Stampfen und Schnaufen hörte. Ihn ergriff ein leiser Schauder der Furcht. Daran hatte er noch gar nicht gedacht, dass er allein in dieser Wildnis auf Phaia treffen und der Bestie schutzlos gegenüberstehen könnte.
Warum zur Hölle hatte er kein Licht mitgenommen? Eine Fackel wenigstens oder etwas Zunder?
Gottfrieds Pferd spürte die Angst seines Reiters und sah nun seinerseits überall Gefahren. Es scheute vor einem tiefhängenden Ast und als es auf einen laut knackenden Zweig trat, war es vorbei: Das Pferd rannte einfach drauflos. Gottfried war ein geübter Reiter, aber diesmal fiel es ihm schwer, dem durchgehenden Tier erst einmal den freien Lauf zu gewähren, damit es sich beruhigen konnte. Er duckte sich hinter die flatternde Mähne, um sich nicht an brechenden Zweigen zu verletzen, und er hing mehr auf dem Sattel, als dass er ritt.
Das Pferd wusste – im Gegensatz zu seinem Reiter – ganz genau, wie nah das Ende des Waldes war. Und da wollte es hin, und zwar so schnell wie möglich. Als es zwischen den letzten rauen Stämmen hervorbrach und auf einem quer verlaufenden, ausgefahrenen Karrenweg ankam, stieg es unvermittelt, um nicht in den Straßengraben zu stürzen.
Gottfried merkte, dass er sich nicht mehr halten konnte, und versuchte einen kontrollierten Sturz aus dem Sattel. Trotzdem blieb er unglücklich am Steigbügel hängen und kam äußerst schmerzhaft mit seinem ganzen Körpergewicht auf der rechten Hüfte auf.
„Aua!“, brüllte er in die hereinbrechende Nacht und blieb benommen liegen. Der Schmerz nahm für einige Sekunden sein ganzes Bewusstsein ein. Er war fest davon überzeugt, sich mindestens einen Knochen gebrochen zu haben. Aber nach ein paar tiefen Atemzügen ging es schon etwas besser und er nahm fast gleichzeitig mehrere Dinge wahr:
Es war kalt.
Es war nahezu dunkel.
Sein Pferd galoppierte blindlings davon.
Und auf der anderen Seite des Fahrwegs stand ein riesiges Wildschwein!
*
Ohne die hellen Laternen am Tor des Städtchens hätte Johann nicht gewusst, in welche Richtung er die Kutsche lenken sollte. Er konnte in der Dunkelheit noch nicht einmal mehr die Straße erkennen. Aber seine guten Pferde fanden den Weg auch ohne Licht. Sie sehnten sich nach einem warmen Stall und einem Trog voller Heu und Hafer.
So hielten sie dann bald vor dem Tor des Städtchens an. Die Wächter leuchteten Johann mit ihren Laternen ins Gesicht, spähten ins Wageninnere und ließen sie mit einem Nicken passieren.
„Ist hier vor Kurzem ein einzelner Reiter hereingekommen?“, fragte Johann. Aber die Torwächter verneinten. Sie hatten seit Stunden niemanden zu Pferd gesehen.
Johann war in großer Sorge um seinen Freund. Aber zunächst musste er sich darum kümmern, dass die Frauen eine sichere Unterkunft für die Nacht bekamen. Er hielt auf den nächsten Gasthof zu, den er an den hell erleuchteten Fenstern und dem Schild über der Tür erkannte.
Ein halbwüchsiger Junge, offenbar der Sohn des Wirtes, wies sie in einen Hof, wo sie abspannen und die Pferde in einem kleinen Stall unterbringen konnten.
Es dauerte nicht lang und Isolde und Walburga ließen sich aufatmend in ihren Gästekammern auf die Betten fallen. Es tat so gut, den Rücken zu entspannen und nicht mehr durchgeschüttelt zu werden. Trotzdem vergaßen sie ihre Besorgnis nicht und bald trafen sich alle drei in Walburgas und Johanns Zimmer.
„Ich werde den Wirt bitten, euch ein Nachtmahl heraufzubringen“, sagte Johann, „und mir ein frisches Pferd und eine Laterne zu leihen, damit ich Gottfried entgegenreiten kann.“
Die Frauen nickten stumm. Tapfer versuchten sie, ihre Angst davor zu verbergen, hier ganz allein an einem fremden Ort zurückzubleiben.
„Geh kein Risiko ein“, bat Walburga ihren Mann inständig. „Reite nicht zu weit.“
Isolde blickte Johann flehend an. „Ich werde ihn schon finden“, sagte er und strich ihr tröstend über die Wange.
Dann verließ er das Zimmer, nicht ohne die Frauen zu ermahnen, niemandem außer dem Wirt die Tür zu öffnen.
*
Gottfried und Phaia trennten nur wenige Meter. Trotz seines schweren Sturzes hatte die Angst ihn wieder auf die Beine gebracht. Er stand, um möglichst viel Halt zu haben, mit gebeugten Knien. Aber seine Hände schwebten hilflos in der Luft. Noch nicht einmal einen Stock hatte er auf die Schnelle finden können. Gedanken rasten durch seinen Kopf. Warum war er bloß vollkommen unbewaffnet losgezogen? Das war jetzt die Strafe für seine Dummheit. Er war Phaia wehrlos ausgeliefert.
Die Wildsau grollte wütend und Gottfried war überzeugt davon, ihren heißen Atem zu spüren und ihre winzigen Augen in der Dunkelheit rot glühen zu sehen. Er wusste, dass man sich angesichts eines Wildschweins am besten vollkommen still verhalten sollte. Aber diese Sau war eindeutig in Angriffshaltung und hatte es auf ihn abgesehen. Es fiel ihm nichts Besseres ein, als das Vieh anzubrüllen: „Hau ab! Verschwinde, du mieses Dreckstück von einer Wildsau! Lass mich in Ruhe!“
Phaia ging einen Schritt zurück, schnaubte aber noch grollender und senkte auf gefährliche Weise den Kopf. Dann spannte sich ihr ganzer Körper an und Gottfried wurde klar, dass sein Rufen das Tier nur wütender gemacht hatte. Er hatte es vermasselt. Heiße Angst durchfuhr ihn, als Phaia endlich ihre Massen in Bewegung setzte und angriff.
Die Wildsau stürmte über den Karrenweg und stieß mit aller Kraft und ihren mindestens zwei Zentnern Lebendgewicht auf Gottfried. Der schrie laut auf und flog in einem Bogen in den Straßengraben. Noch ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, war die Sau über ihm, packte mit ihrem stinkenden Gebiss seinen Mantel am Kragen und zerrte ihn aus dem Graben zurück auf den Weg. Schreiend und um sich schlagend versuchte er, sich des Mantels zu entledigen, aber er verwickelte sich nur immer mehr darin. Phaia tobte über ihm, trat ihn hier und da in die Rippen und den Bauch und zerrte so stark an dem Kragen, dass er abriss. Gottfried hatte wenige Sekunden, um auf die Füße zu kommen. Gleichzeitig hörte er viele Hufe galoppieren. Das musste die Kutsche mit den anderen sein. Johann war da! Er würde ihn retten! Gegen die Kutsche konnte Phaia nicht ankommen.
Er wusste nicht, wie ihm geschah, als Phaia Reißaus nahm und er grob von zwei Seiten an den Armen gepackt, hochgehoben und zwischen zwei galoppierenden Pferden mitgerissen wurde. Er hörte laute Rufe und stieß selbst einen Schrei aus, weil es ihm fast die Schultern auskugelte.
Endlich hielten die beiden Reiter, die ihn erfasst hatten, ihre Pferde an und ließen ihn los. Gottfried konnte sich nicht mehr auf den weichen Knien halten und sank zu Boden. Die Reiter saßen in der Dunkelheit ab. Ein Dritter kam des Weges zurückgeritten und rief: „Die Bache ist mir entkommen. Es war zu dunkel für einen Schuss. Schade um den schönen Braten. Aber ich habe das Pferd unseres tapferen Freundes mitgebracht.“ Gottfried entging nicht, dass die Stimme ihn verspottete.
„Ihr habt mehr als Glück gehabt“, sagte jetzt einer der Männer dicht neben ihm. „Diese Viecher können einen im Handumdrehen erledigen.“
„Danke“, stammelte Gottfried. „Danke, vielen Dank!“
Er hörte Feuersteine aneinanderschlagen, und kurz darauf leuchtete eine Handvoll Zunder vor ihm auf, an dem einer der Fremden eine Fackel entzündete. Gottfried schaute in drei bärtige und nicht eben freundliche Gesichter. Er kam sich hilflos und albern vor.
„Schau an, ein feines Prinzchen“, sagte einer mit rotem, lockigem Bart und rieb den Stoff seines inzwischen völlig zerfetzten Mantels zwischen den Fingern.
„Und ganz allein unterwegs“, spottete ein Schwarzhaariger.
„Scheint so, als bräuchte er unsere Hilfe“, bemerkte der dritte, blonde Mann und sein Missfallen war nicht zu überhören.
Sie setzten Gottfried kurzerhand auf sein Pferd und nahmen ihn in ihre Mitte. Dann schlugen sie einen zügigen Trab an. Sein Pferd war offenbar froh, Gesellschaft gefunden zu haben, und trabte brav mit seinen Kumpanen mit.
Für Gottfried war das alles zu schnell gegangen und er versuchte, herauszubekommen, ob die drei ihm nun gerade halfen oder ihrerseits etwas Ungutes mit ihm vorhatten. Mit ihnen war eindeutig nicht gut Kirschen essen und es war offensichtlich, dass sie nicht erfreut über seine Gesellschaft waren.
Nach einer kurzen Weile wurden die Lichter einer Stadt vor ihnen sichtbar. Ein einzelner Reiter kam ihnen entgegen. Gottfried nahm einen dankbaren tiefen Atemzug, als der Reiter herangekommen und in den Schein der Fackel geritten war. Es war Johann!
Fortsetzung im nächsten Kalendertürchen.
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