

Die vier Reiter staunten nicht schlecht, als ihnen auf dem Karrenweg vor dem Stadttor Spuren eines großen Wildschweins genau entgegenkamen! Irritiert hielten sie die Ponys an, obwohl sie erst vor wenigen Minuten aufgebrochen waren.
„Wir müssen sichergehen, dass diese Spuren wirklich von Phaia sind“, sprach Johann laut gegen den Wind an.
Da sie sich auf keinen Fall schon wieder trennen und einzeln unterwegs sein wollten, ritten sie gemeinsam auf der Fährte zurück. Sie fanden mühelos die Stelle, an der Gottfried am Vorabend Phaia begegnet war.
Es waren eindeutig ihre Spuren, die sie bis hierher zurückverfolgt hatten. Johann, Isolde und Walburga betrachteten schaudernd den aufgewühlten Boden.
„Das hätte auch ganz anders ausgehen können!“ Gottfried erinnerte sich mit Schrecken an den Angriff der riesigen Wildsau. „Ich bin froh, dass ich noch lebe.“
„Wir können nicht nur froh sein, dass du noch lebst“, bemerkte Johann. „Wir können auch froh sein, dass Phaia noch lebt.“
Ja, natürlich, daran hatten sie überhaupt noch nicht gedacht!
„Oh Gott, stellt euch vor, August hätte sie gestern mit dem Bogen erlegt!“ Isolde sprach aus, was allen durch den Kopf ging.
„Dann wäre unsere Fahrt vorbei“, konstatierte Johann.
„Ach, herrje“, rief Walburga in komischer Verzweiflung aus, „wir müssen Phaia also nicht nur verfolgen, sondern auch noch beschützen!“
Sie versuchten, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen.
„Dann lasst uns damit anfangen“, sagte Gottfried fast schon grimmig und wendete sein Pferd. Die anderen taten es ihm gleich und bewegten sich wieder auf die kleine Stadt zu, in der sie genächtigt hatten. Die Spur war klar zu erkennen. Sie führte auf der Südseite um die Stadtmauer herum und wandte sich dahinter erstaunlicherweise nach Südosten.
„Merkwürdig“, überlegte Walburga laut. „Hoffentlich weiß diese Sau überhaupt, wo sie hinwill. Sie hat sich doch bisher die ganze Zeit nach Südwesten gehalten.“
Gottfried stellte sich in den Steigbügeln auf, um besser sehen zu können.
„Ich denke, sie weiß genau, wo sie hinwill.“ Er zeigte auf einen dunklen Streifen in der Ferne. „Sie hält, glaube ich, auf diesen Wald dort hinten zu. Die offene Ebene bietet ihr zu wenig Schutz.“
Den heftigen Wind im Rücken ritten sie an den Klauenabdrücken entlang, die sich mit der Zeit immer tiefer in den feuchten Boden eingruben. Auch die Hufe der Ponys sanken in den zunehmend nasser werdenden Untergrund.
Isolde hielt schließlich ihr Pony an. „Wir sollten hier nicht weiterreiten.“
„Können wir nicht einen Bogen um diesen Sumpf machen?“, fragte Walburga. „Es scheint doch ziemlich sicher zu sein, dass sie in den Wald da hinten will.“
Gottfried grinste Johann an, der neben ihm stehengeblieben war. „Man sollte Frauen keine Hosen tragen lassen. Die fangen an, eigene Ideen zu haben.“
Auch Johanns Mundwinkel verzogen sich amüsiert, während er weiter auf den Wald in der Ferne schaute. „Anscheinend fördern die Hosen aber auch das logische Denken.“
Beide lachten und betrachteten voller Stolz ihre vom Wind zerzausten Angetrauten. Und dann schlugen sie alle einen weiten Bogen um das vor ihnen liegende Moor.
An den hohen, schilfartigen Gräsern, die sich im Sturm niederbogen, konnten sie erkennen, bis wohin der nasse Boden reichte.
„Hoffentlich ist diese Wildsau nicht in irgendeinem Tümpel steckengeblieben und wir müssen sie auch noch aus diesem stinkenden Matsch retten“, bemerkte Walburga zu der neben ihr reitenden Isolde. Sie waren schon fast um den Sumpf herum.
Gottfried, der etwas voraus unterwegs war, winkte zum Zeichen, dass er die Fährte wiedergefunden hatte. Tatsächlich führte sie in gerader Linie in den Wald.
Es fing an zu dämmern, als sie die ersten Bäume erreichten. Die Wipfel rauschten und wogten über ihnen und der Wind riss die letzten bunten Blätter aus den Kronen. Die Luft war erfüllt davon und manche wehten ihnen direkt ins Gesicht.
„Wir sollten da nicht hineinreiten“, rief Gottfried den anderen zu. „Der Sturm ist zu heftig, es ist gefährlich im Wald.“
„Lasst uns einen Platz am Rand suchen“, schlug Johann vor. „Der Wind geht in den Wald hinein, wir dürften also vor herabfallenden Ästen sicher sein.“
Ihnen stand ihre erste Nacht im Freien bevor und allen war dabei beklommen zumute.
Sie fanden einen Platz mit einigermaßen trockenem Boden und hielten dort an. Die Ponys wurden angepflockt und konnten grasen. Aber die Tiere blieben unruhig und ihre hellen Mähnen flatterten im Wind.
Die Männer entluden das Lastenpony und die Frauen die leichten Bündel, die sie alle hinter ihren Sätteln befestigt hatten. Aber es ließ sich beim besten Willen kein Lager aufschlagen. Ihre Wolldecken flogen fast davon und es war vollkommen unmöglich, ein Feuer zu entzünden.
Der Sturm nahm an Stärke immer noch zu. Die Ponys drängten sich eng zusammen und die Menschen stellten sich dicht neben sie, um nicht allzu hart vom Wind getroffen zu werden. Manche Böen waren so heftig, dass sich die vier kaum verständigen konnten und Teile ihrer Ausrüstung auf den Wald zu geweht wurden.
„Was ist schlimmer,“ brüllte Isolde gegen das Tosen an, „hier mitten im Sturm zu stehen, oder unter den Bäumen ein Feuer zu haben und sich irgendwie vor fallenden Ästen zu schützen?“ Alle blickten sehnsüchtig in den Wald hinein.
Johann nickte, legte seine Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief: „Zieht euch die Wolldecken über die Köpfe und dann sei Gott mit uns!“
Sie rafften die abgeladenen und verwehten Bündel wieder zusammen. Walburga, als die Leichteste von ihnen, konnte sich kaum auf den Füßen halten. Die Männer nahmen je zwei Ponys und führten sie an den Zügeln in den Wald hinein. Die Frauen folgten mit dem Lastentier.
Es knackte und rauschte bedenklich über ihren Köpfen und manche der hohen jüngeren Bäume krachten regelrecht aneinander, wenn sie sich im Wind zur Seite bogen.
„Sucht eine Senke, und Nadelbäume!“, brüllte Johann, während er sich mühte, gleichzeitig die Zügel und seine Kapuze festzuhalten.
Kurz darauf zeigte Isolde auf eine Mulde im Waldboden, die sehr dicht mit Fichten bewachsen war.
Zwar mussten sie mühsam viele tief an den Stämmen gewachsene, trockene Zweige abbrechen, aber dafür fanden sie einen kleinen Platz in der Mitte der Senke, an dem sich über ihren Köpfen die immergrünen Äste dicht ineinander verfilzten. Dankbar legten sie ihre Sachen auf den Boden, banden die Ponys an und hängten ihnen Hafersäcke um.
Es dauerte nicht lang und ein beinahe gemütliches Lager aus dicken Wolldecken war geschaffen. Während sich Johann mit Feuerstein und Zunder mühte, gingen die anderen los, um im Zweilicht trockenes Holz zu sammeln. Keine Stunde später prasselte ein munteres Feuer.
Weniger erfolgreich waren Gottfrieds Versuche, gegabelte Äste neben den Flammen in den Boden zu stecken, um einen eisernen Bratspieß darüber zu legen, an den sie ihren Kochtopf hängen könnten. Seine Konstruktionen kippten immer wieder um oder brachen entzwei und Isolde verkündete ein ums andere Mal, dass sie so unmöglich kochen könne.
Derweil durchsuchte Walburga das Bündel mit der Wegzehrung. Sie hatten noch einiges vom ersten Gasthof dabei. Hauptsächlich gedörrte Früchte, geräucherten Speck, mehrfach gebackenes, schwarzes Brot und etwas Käse. Ihre drei Freunde aus dem Städtchen hatten ihnen noch andere Lebensmittel eingepackt: Stücke von gedörrtem Pökelfleisch, getrocknete Linsen und Bohnen, Kaffee, Mehl, einen Topf Gänseschmalz und kleine, harte, knochentrockene Brotstücke.
„Was sollen wir jetzt davon kochen?“, fragte Walburga.
„Ich habe einen Mordshunger“, meldete sich Gottfried und Johann stimmte zu.
Die Frauen schauten die Lebensmittel durch und nahmen das eine oder andere in die Hände - sie hatten beide in ihrem ganzen Leben noch keine vollständige Mahlzeit gekocht.
„Was hat Wolfgang gesagt?“, frage Isolde, als wolle sie wie ein Schulkind ihre Lektion wiederholen.
„Die Bohnen und Linsen über Nacht einweichen“, antwortete Walburga. „Und anstatt Salz ein Stück Pökelfleisch mitkochen.“
„Aber was essen wir jetzt? Wir haben keine Zeit, noch etwas einzuweichen“, fragte Isolde.
„Er hat nichts davon gesagt, dass man die Trockenfrüchte einweichen muss“, mischte sich Gottfried ein und griff sich ein Stück getrockneten Apfel. Walburga schlug ihm auf die Finger. Aber Gottfried ließ schon von sich aus von den Früchten ab. Sie waren hart und zäh.
„Wir könnten das Obst in Wasser weichkochen und mit dem Mehl irgendwie Pfannkuchen oder so etwas machen“, schlug Isolde wenig überzeugend vor.
Schließlich entschieden sie sich dafür, heute Abend Schwarzbrot und Käse zu essen und den Kochtopf für das Frühmahl, mangels einer gescheiten Aufhängung, direkt in die Glut zu stellen. Sie leerten einen ihrer Wasserschläuche in den Topf und gaben getrocknete weiße Bohnen und ein Stück Pökelfleisch dazu.
Schweigend saßen sie um das Feuer, lauschten auf den Sturm und kauten an ihrem Brot mit Käse. Ein eiskalter Regen setzte ein, der sich nach und nach mit nassen Schneeflocken mischte. Zwar hielten die Nadelbäume viel von dem Niederschlag ab, aber trotzdem wurde es ungemütlich unter den grünen Zweigen.
Sie breiteten die dicksten Decken wie Zelte über niedrige Äste. Johann schob immer neues Holz nach, aber damit erreichte er nur, dass sie von vorne fast verbrannten, während ihnen im Rücken zusehends kälter wurde.
„Was“, fragte Isolde dumpf unter ihrer Decke hervor, „wenn diese Wildsau heute Nacht kommt und über unseren Topf mit Bohnen herfällt?“
„Oder über uns“, spann Walburga den Faden weiter.
Johann und Gottfried schauten sich fragend an.
„Wir müssen eine Wache bestimmen“, verkündete Walburga entschlossen.
Die Männer drehten resigniert die Gesichter weg. Es war vollkommen klar, dass einer von ihnen, beziehungsweise sie beide nacheinander die Nachtwache übernehmen mussten. Niemals hätten sie zugegeben, sich des Nachts im Wald von einer Frau gegen wilde Tiere beschützen zu lassen.
Erschöpft wickelten sich drei von vier in ihre klammen Wolldecken und versuchten Schlaf zu finden. Aber obwohl sie sich todmüde fühlten, hielten sie die Kälte und das beunruhigende Geräusch des brausenden Windes wach.
Johann, der die erste Wache übernommen hatte, bemühte sich, das Feuer in Gang zu halten. Die dürren Zweige, die er im Feuerschein finden konnte, verbrannten jedoch allzu schnell. In den stockdunklen Wald wollte er nicht gehen, um Holz zu sammeln.
Der trübe Morgen fand sie alle vier in fröstelndem Halbschlaf und feuchten Wolldecken vor. Phaia war nicht gekommen. In dem Topf auf der erkalteten Glut steckte ein hölzerner Kochlöffel in einer zähen Masse aus völlig zerkochten Bohnen. Mit langen Zähnen schaufelten sie den Bohnenpampf und das aufgequollene Pökelfleisch in sich hinein.
Irgendwo zwischen Missmut und Verlegenheit packten sie ihre Sachen zusammen und saßen kalt und klamm auf ihren Ponys auf. Der Sturm hatte sich in einen anhaltenden, kräftigen Wind gewandelt und brachte noch mehr Schneeregen.
Sie fanden Phaias Spur wieder und folgten ihr schweigend immer tiefer in den Wald hinein. Ihr Weg war übersät mit abgebrochenen Ästen und gefallenen Bäumen. Jetzt waren sie dankbar für die geschickten und stoischen Ponys, denen die Kälte kaum etwas auszumachen schien.
Es dauerte nicht lange, da kündigte ein heller Lichtstreifen vor ihnen das Ende des Waldes an. Als sie unter den Bäumen herauskamen, erkannten sie, dass sie die große Ost-West-Handelsstraße erreicht hatten: Ein Fahrweg, der so breit war, dass zwei Gespanne bequem aneinander vorbei passten. Der Boden war hart und an manchen Stellen durch aufgeschüttete Bruchsteine befestigt.
„Endlich ein richtiger Weg!“ Walburga atmete auf. „Wollen wir hoffen, dass Phaia auch dieser Meinung war.“ Vor ihnen war weit und breit kein Wald zu sehen und sie waren gespannt, wohin die Bache sie führen würde.
„Der richtige Weg beschert uns aber auch einen Untergrund, auf dem Spuren schwer zu lesen sind.“ Johann war abgesessen und untersuchte den Boden. Sie waren von der weichen Erde im Moor und im Wald verwöhnt. Hier, auf der von Nässe überspülten Straße, konnten sie froh sein, wenn sie alle paar Meter einen deutlichen Klauenabdruck fanden.
Aber Phaia hatte offenbar beschlossen, den Weg zu nehmen, auf dem sie am schnellsten vorankam, wenn es schon keinen schützenden Wald gab. Und so führte sie die Spur doch unerwartet zügig direkt nach Westen. Einmal entdeckten sie sogar eine Hinterlassenschaft der Wildsau. Die Männer saßen ab, um das eklige Ding näher zu untersuchen, während sich Walburga und Isolde angewidert zurückhielten.
„Das Zeug stinkt noch ziemlich frisch“, stellte Johann fest.
„Sie kann nicht weit voraus sein“, nickte Gottfried. „Wir müssen vorsichtig sein. Ich möchte diesem Vieh nicht noch einmal gegenüberstehen.“
Sie saßen wieder auf und trabten jetzt langsamer die Straße entlang, immer vorausspähend, ob sich irgendwo etwas bewegte. Auf diese Weise wäre ihnen fast entgangen, dass die Fährte plötzlich nach links über ein Stoppelfeld abbog. In der Ferne sahen sie eine kleine Bauernkate stehen. Sicherlich wohnte dort der Besitzer dieses Feldes.
Sie hielten an. Johann runzelte besorgt die Stirn.
„Warum läuft sie direkt auf dieses Haus zu?“, fragte Isolde mehr sich selbst als die anderen.
„Unsere Phaia hat jetzt langsam mal Hunger, schätze ich“, antwortete Johann.
„Oh Gott!“, flüsterte Walburga.
Fortsetzung im nächsten Kalendertürchen.
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